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Hypertext und menschliches Verstehen

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nach unten Integrationskonflikt bei "Netz zu Netz"
nach unten Interaktion und Reaktionsspielraum
nach unten Unkontrollierte Informationsaufnahme
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Vernetzte Texte für vernetztes Denken

"Hypertext scheint unter der Annahme kognitiv plausibel zu sein, dass Wissen...im menschlichen Gehirn in vernetzt topologischen, nichtlinearen Strukturen organisiert sei. Unter dieser Annahme könnte die Wissensaufnahme über eine vergleichbare Organisationsform, wie sie durch Hypertext gegeben ist, effizienter sein als eine Aufnahme, die den 'Umweg' über lineare Präsentationsformen (Vorlesungen, Texte) nimmt" (Quellenhinweis Kuhlen, S.182).

Wenn der Lernende, so die Argumentation, einen neuen Wissensgegenstand in einer vernetzten Umgebung kennenlernt, fällt ihm die Einordnung dieses Wissensgegenstandes in sein eigenes, vernetztes Wissen leichter. Wenn z.B. von dem isolierten Wissensgegenstand "Quesenbandwurm" Verweise zu "Bandwürmer allgemein", "Wirte und Zwischenwirte", "Bandwürmer bei Menschen", "Drehkrankheit" und "Krankheiten durch Bandwürmer allgemein" führen, helfen diese Verweise bei der Einordnung des "Quesenbandwurms" in das vorhandene Wissen.

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Integrationskonflikt bei "Netz zu Netz"

Gegen die Annahme, dass vernetzte Wissenspräsentation die Aufnahme von Wissen erleichtert, lassen sich zwei Argumente anführen:

Das erste Gegenargument führt ins Feld, dass sich der Hypertext-Leser seine Leselinie erst selbst bahnen muss, was Zeit und Energie kostet. Wobei die Wissensaufnahme letztlich nicht anders funktioniert als bei "herkömmlichem" Text: sie "findet..., auch durch die Navigation in Hypertext, in einer zeitlich sequentiellen Reihenfolge statt, sodass jeder faktische Weg letztlich doch wieder linear ist" (Quellenhinweis Kuhlen, S.56) - siehe hierzu auch das Thema Seite n:m-Relationen und kohäsive Geschlossenheit.

Dem zweiten Gegenargument zufolge ist gerade die Integration von vernetztem Wissen in ein Wissensnetz problematischer als die Integration "einfachen" Wissens in das Wissensnetz. Dahinter steht die Annahme, "dass zwei Netze, zumal wenn sie polyhierarchisch strukturiert sind, schwieriger zu integrieren sind als eine lineare Struktur in ein bestehendes Netz" (Quellenhinweis Kuhlen, S.56).

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Interaktion und Reaktionsspielraum

Fein strukturierte Hypertexte bieten die Möglichkeit, Information nicht nur auf eine Art, sondern auf verschiedene Arten, über verschiedene Ebenen, in unterschiedlichen Zusammenhängen zu vermitteln. Der Hypertext-Leser, so die Argumentation, hat also einen Reaktionsspielraum bei der Informationsaufnahme. Durch Zoomen (Seite Fish-Eye-Views), zwangloses Browsen ("Herumstöbern"), Seite Web-Views usw. kann er in Interaktion mit dem Hypertext-System verschiedene Strategien ausprobieren, um bei Verstehensprozessen zu den gewünschten Aha-Effekten zu gelangen.

Denn jeder kennt den Effekt: man versteht etwas nicht, obwohl man es ausführlich erklärt bekommt. Und plötzlich versteht man es - ohne viel Erklärung, einfach, weil man den gesuchten Bezugspunkt, das vermisste Stichwort, die individuell richtige Stelle zum Einordnen ins eigene Gedächtnis gefunden hat.

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Unkontrollierte Informationsaufnahme

Gegen Mehrschichtigkeit und Angebotsfülle von Hypertexten wird im Zusammenhang mit Wissenserwerb folgendes Gegenargument angebracht: Der Lernende befindet sich in einem "anomalous state of knowledge" (Brooks). In dieser unsicheren Situation ist das Angebot der freien Navigation gerade das Verkehrte. Gerade in diesem Zustand, in dem der Lernende den Stoff noch nicht überschaut, noch nicht viel versteht, noch nicht entscheiden kann, welche Information wichtig und welche unwichtig ist, muss das vermittelnde Medium (Lehrer, Professor, Buch) die Kontrolle übernehmen. Hypertext verlockt zu freiem Navigieren und damit zu Ablenkung, zu unkontrollierter Informationsaufnahme.

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"Vom Hundertsten ins Tausendste": Vor- und Nachteile

"Vom Hundertsten ins Tausendste kommen" ist eine Redewendung mit negativer Bedeutung. Abstrahiert man diese jedoch, bedeutet die Redewendung einfach, dem freien Fluss der Gedanken zu folgen, ohne sich rationalen oder sonstigen Beschränkungen zu unterwerfen. Hypertext unterstützt diese Art zu denken.

Ein Vorteil scheint diese Art zu denken in zwei Situationen zu sein:

1. Zu Beginn der Beschäftigung mit einem neuen Gebiet. In diesem Stadium unterstützt die freie Navigation das Erwachen von Interesse und damit die geistige Bereitschaft, sich näher auf das Gebiet einzulassen.

2. In einem fortgeschrittenen Stadium des Wissens. Wer sich auf einem Gebiet erst einmal auskennt, wird die Möglichkeiten von Hypertext gezielt und souverän nutzen können, da er weiß, wonach er sucht, wenn er ein solches System benutzt.

Ein Nachteil ist die von Hypertext favorisierte Art zu denken während der konzentrierten Wissensaufnahme, während des Lernstadiums, während jener Phase, in der sich der Aufnehmende mentale Modelle vom aufgenommenen Wissen macht. In dieser Phase sind Ablenkung und Angebotsfülle nur hinderlich. Um diese Phase der Informationsaufnahme elektronisch zu unterstützen, kann Hypertext allerdings die Technik der Seite Guided Tours anbieten.

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Studien zu Hypertext

Die Schnotz-Studie (1987) untersucht die Wirkung von kontinuierlichen kontra diskontinuierlichen Texten auf den Lernerfolg. Das vermittelte Wissen war in beiden Fällen das gleiche. In den diskontinuierlichen Texten wurde der Textzusammenhang, das heißt alle argumentativen, verbindenden Strukturen entfernt. Die Studie, die an 34 Studenten durchgeführt wurde, ergab, dass die Gesamtinformation durch den kontinuierlichen Text tendenziell besser vermittelt wurde als durch die diskontinuierliche Version. Eine differenzierte Auswertung ergab: Personen mit höherem Vorwissen ziehen aus diskontinuierlichen Texten größeren Nutzen. Personen mit geringerem Vorwissen bevorzugen eindeutig kontinuierliche Texte. Die Schnotz-Studie war jedoch nicht als Vergleich von Hypertext und Text ausgelegt. Die Kohärenz und Kontinuität schaffende Leistung von Verweisen in Hypertexten wurde nicht berücksichtigt. Auf technische Dokumentation übertragen, könnte man sagen, dass die Studie eher den Unterschied zwischen Tutorial und Referenz untersucht hat.

Die Intermedia-Studie (1987) bezieht sich auf zwei Kurse, einen über englische Literatur, und einen über Biomedizin. Zu beiden Kursen wurde das Lehrmaterial mit dem Software-Produkt Intermedia als Hypertext organisiert. Die Ergebnisse der Studie waren keine Messungen des Lernerfolgs, sondern Auswertungen der Einschätzungen befragter Studenten. Die Hypertext-Unterstützung wurde insgesamt als wertvoller angesehen als die Unterstützung durch konventionelle Lehrmaterialien. Die Streuung zeigt allerdings, dass die Bewertungen von "much better" bis "much worse" reichen. Bei den Biomedizinern war die Resonanz positiver als bei den Literaturstudenten. Nach Aussagen der Dozenten wurden bei den Abschlussprüfungen deutlich höhere Leistungen erzielt.

Weitere Studien zum Thema:

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Resümee: Hypertext und menschliches Verstehen

Naive Überhöhung des Mediums Hypertext ist sicher unbegründet. Zu allen Argumenten für das neue Medium lassen sich Gegenargumente finden. Empirische Studien ergeben ein uneinheitliches Bild: zum Teil zugunsten von Hypertext, zum Teil zugunsten linearer Wissensdarbietung.

Am erfolgreichsten wird Hypertext derzeit in der technischen Dokumentation eingesetzt. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn technische Dokumentation ist eine Sorte Literatur, die kaum jemand gerne freiwillig von vorne bis hinten liest. Auch in dem Dokument, das Sie gerade lesen, werden Sie Kapitel finden, die Sie sicherlich nicht auf die gleiche Weise lesen werden, wie Sie es hier in der Einführung vielleicht tun. Hypertext spielt immer dann seine Stärken aus, wenn sich der darzustellende Inhalt sinnvoll fragmentieren lässt. Ein gewaltsames Fragmentieren jeglicher Inhalte nach dem Motto "aber es soll doch Hypertext sein!" wird dagegen sein Ziel verfehlen. HTML, das Basisformat für Web-Seiten, zwingt Sie nicht zu gewaltsamer Fragmentierung, erlaubt sie jedoch. Insofern sind Sie bei der Informationsverteilung auf Web-Seiten frei und können selbst entscheiden, in welchem Ausmaß Sie Inhalte fragmentieren. Die Art der jeweiligen Inhalte sollte dabei das Maß sein. Wenn sich Inhalte gut fragmentieren lassen, dann sollte das Web-Design solcher Inhalte die Möglichkeiten von Fragmentierung und Vernetzung auch nutzen. Bei Inhalten, die sich nicht sinnvoll fragmentieren lassen, darf ein Text dagegen ruhig ein zusammenhängender Text bleiben.

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